Auf den Punkt gebracht. Festrede von Angela Stender
Sehr geehrte Frau Landrätin Schneider, werte Ehrengäste, verehrte Gäste, liebe Sportlerinnen und Sportler, liebe Oppenröderinnen und Oppenröder,
zunächst möchte ich mich beim Vorstand des Sportvereins für die Ehre bedanken, heute hier den Festvortrag halten zu dürfen. Ich kann mir das eigentlich nur so erklären, dass sie eine ganz bedeutende Persönlichkeit gesucht haben. Weil die Kanzlerin aber heute nicht konnte, hat man zumindest jemanden mit demselben Vornamen genommen.
Worüber aber reden zu einem solchen besonderen Anlass? Dass Sport gesund ist, weiß jeder. Dass Sport in der Gruppe und in der Gemeinschaft Spaß macht, ist auch nichts Neues. Dass die Lebensqualität in einem Dorf ganz besonders von einem funktionierenden Vereinsleben abhängt, das haben viele schon gesagt. Und auch, dass das Ehrenamt in unserer Gesellschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, werden Politiker landauf, landab nicht müde zu betonen. Als schienen sie zu erwarten, dass nur durch dieses Lob noch mehr Menschen unentgeltlich für die Allgemeinheit aktiv werden…
Das soll’s auch nicht sein, denn schließlich geht’s hier und heute ganz allein um unseren Jubelverein… Dann bestreite ich meine zwanzig Minuten eben mit dem Aufzählen der größten sportlichen Erfolge, der Vorstandsmitglieder der vergangenen hundert Jahre und garniere das Ganze mit einigen interessanten Zahlen aus dem Vereinsleben.
Ich hoffe nicht, dass es das ist, was Sie jetzt gern hören möchten. Darauf bin ich nämlich gar nicht vorbereitet. Wenn Sie sich dafür aber interessieren, kann ich Ihnen wärmstens die Festschrift empfehlen.
Obwohl das zwar auch nicht gerade originell ist, fange ich mit einem Zitat an:
„Die freiheitlich gesinnten Turner werden eifrig mitarbeiten, ein altes verfaultes System mit Stumpf und Stiel auszurotten, alte Ruinen niederzureißen, damit neues Leben aus ihnen erblühe. Unter diesen neuerrichteten Gebäuden erst werden wir ausrufen können: Wir haben Friede, Freiheit, Recht. Keiner ist des andern Knecht.“
Ja, wo gibt’s denn das? Was soll das denn heißen? Schließen sich Turner denn nicht zusammen, um regelmäßig miteinander zu trainieren, möglichst erfolgreich Wettkämpfe zu bestreiten und diese Erfolge gemeinsam zu feiern?
Diese Turner wollen offenbar noch einiges anderes. Sie wollen kämpfen gegen ein altes verfaultes System, sie wollen Ruinen niederreißen und neues Leben hervorlocken. Sie suchen Friede, Freiheit, Recht und lehnen es ab, jemand anderes Knecht zu sein. Turner als Revoluzzer, das können wir uns heute kaum vorstellen. Und doch bildet diese Aussage aus der ersten Ausgabe der Arbeiter-Turnerzeitung die weltanschauliche Grundlage, auf der auch der Turnverein „Frei Heil Oppenrod“ vor 100 Jahren gegründet wurde.
Drei Fragen stellen sich aus diesem Zitat:
1. Was war dieses „verfaulte System“, das die Turner zerstören wollten?
2. „Frisch, frei, stark, treu“ – Die Welt der Arbeiter-Turnvereine
3. Was hat das alles mit der Gründung von „Frei-Heil-Oppenrod“ zu tun?
4. Wieviel „Frei-Heil-Oppenrod“ steckt heute noch in den Sportfreunden?
Zur ersten Frage, Welches „verfaulten System“ wollen die Arbeiter-Turner zerstören?
„Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, Heil Kaiser dir“, so begann die Hymne des deutschen Kaiserreichs, auf dessen vierzigstes Jahr wir 1910 blicken. Zentrum und Kopf des politischen Gefüges in diesem Reich ist seit 1888 Kaiser Wilhelm II. Er herrscht als Regent einer konstitutionellen Monarchie über ein Gebiet von Königsberg im Nordosten bis Straßburg im Südwesten. Auf der Fläche von etwas mehr als 540.000 Quadratkilometern leben 1910 rund 65 Millionen Menschen. Seit der Reichsgründung 1871 ist die Bevölkerung damit um mehr als 20 Millionen angestiegen. Es ist eine junge Bevölkerung, weil durch die medizinischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte, die Industrialisierung und den wirtschaftlichen Aufschwung in der Gründerzeit die Kindersterblichkeit gesunken ist und die Lebenserwartung steigt.
Allerdings ist es eine zutiefst gespaltene Bevölkerung. Und sie ist doppelt gespalten: Zum einen geht die Entwicklung in den Städten wesentlich schneller voran als auf dem Land, zum anderen gibt es einen tiefen Graben zwischen Bürgertum und Adel auf der einen und einem wachsenden oft bitterarmen Proletariat auf der anderen Seite.
In den schnell wachsenden Städten und industriellen Zentren gehören elektrischer Strom und fließendes Wasser zum Alltag. Hier gehen die Menschen in die Badeanstalt und fahren Straßenbahn. In Gießen gibt es ein Gaswerk und ein Theater, in Bad Nauheim, Darmstadt und Dresden blühen Kunst und Architektur des Jugendstils. Nach und nach und nach werden die ersten Frauen in Deutschland zum Universitätsstudium zugelassen und in Wien lässt sich ein gewisser Siegmund Freud über die sich rasch ausbreitende Nervosität als Krankheit der Zeit aus.
Auf dem Land kommt der Fortschritt nur langsam voran. Hier richtet sich der Lebensrhythmus noch nach den Jahreszeiten. Hier bestimmen Hühner, Gänse und Schweine das Straßenbild. Die Männer bestellen als Bauern die Felder, betreiben ein Handwerk oder sind als Arbeiter in kleineren Gewerbebetrieben angestellt. Erst 1911 gibt es in Oppenrod die erste Wasserleitung und auf den elektrischen Strom müssen sie bis 1913 warten.
Die Fortschritte in Technik, Architektur, Wissenschaft und Kunst haben die gravierenden sozialen Unterschiede im Kaiserreich nicht ausgleichen können. Die Gräben zwischen den politischen Lagern bleiben tief und nahezu unüberwindlich. Reiche Industrielle und Großagrarier kuren mit dem Adel in Karlsbad und Marienbad, spielen Tennis und segeln auf der Ostsee, während Arbeiterkinder in feuchten Kleinstwohnungen und schlimmen hygienischen Verhältnissen aufwachsen.
Diese sozialen Verhältnisse verschaffen SPD und Gewerkschaften steigende Mitgliederzahlen. Ihre Forderungen nach Steuerreformen, Arbeitszeitverkürzung, Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben, höherer Arbeitssicherheit und besseren Löhnen erhalten zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit.
Die SPD wird 1912 stärkste Kraft im Reichstag. Das ist der Lohn für ihr Eintreten gegen die Politik des konservativen Lagers, das innenpolitisch die Interessen von Großlandwirten und Großindustrie verficht, außenpolitisch Konfrontationspolitik gegen England und Frankreich betreibt und mit Flottenbau und Aufrüstung riesige Staatsschulden angehäuft hat. Kaiser und Reich, Deutscher Flottenverein und Bund der Landwirte, Alldeutscher Verband, die Zusammenschlüsse der Großindustriellen und die bürgerliche Deutsche Turnerschaft sind die Elemente des im Zitat erwähnten verfaulten Systems, die Erbauer der Ruinen, gegen die sich die Energie des Arbeiter-Turnverbandes richtete.
Punkt 2: Frisch, frei, stark, treu – die Welt der Arbeiter-Turnvereine
Vorwarnung:
Jetzt kommt ziemlich viel über Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie. Da kommen wir aber nicht drum herum. Sie werden schnell merken, wieso.
Seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 entwickelten sich Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften zu einer Massenbewegung. Die Gewerkschaften verzeichneten bis 1914 rund 2,6 Millionen Mitglieder. Damit war jeder vierte Arbeiter der rund 12,6 Millionen in Industrie, Handwerk und Verkehr Beschäftigten, Angehöriger einer Gewerkschaft. In der SPD waren 1914 etwa 1,1 Millionen Menschen organisiert.
Ihre Wähler fand die „proletarische Klassenpartei“ (H.U. Wehler) hauptsächlich in den protestantischen Arbeitervierteln von Großstädten und Industrieregionen, aber auch in der untergeordneten Beamtenschaft, bei kleinen Selbständigen und unter den Landarbeitern fand sie Unterstützer. Dennoch wurden ihre Mitglieder und Wähler von den Vertretern der bürgerlichen Parteien als „vaterlandslose Gesellen“ diskreditiert und diskriminiert. Vor der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 taten auch bürgerliche Sportverbände alles, um die Arbeiter außen vor zu halten: Der Amateurparagraph des Deutschen Ruderverbandes von 1883 verwehrte beispielsweise jedem die Mitgliedschaft, (ZITAT) der als Arbeiter durch seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient.
So organisierten die freien Gewerkschaften und die SPD für ihre Mitglieder und deren Familien das gesamte Leben vom Kinderhort bis zum Feuerbestattungsverein. In dieses proletarische Biotop gehören auch die Arbeiter-Turn- und Sportvereine, die nach 1890 überall in Deutschland gegründet werden und sich im Mai 1893 in Gera im Arbeiter-Turnerbund zusammenschließen. 1896 wird in Offenbach der Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität gegründet. Neben Turnern und Radfahrern schlossen sich in diesen Jahren auch Segler, Schützen, Kraftsportler und Kegler zu freien oder Arbeitersportvereinen zusammen. Neben der Verwurzelung in SPD und Arbeiterbewegung und der Identifikation mit deren politischen Zielen teilen sie ein gemeinsames Sportverständnis: Korperkultur, Körperbeherrschung und gemeinsames Erleben stehen im Vordergrund. Der Wettbewerbsgedanke ist zunächst zweitrangig. Erst nach dem ersten Weltkrieg beginnen die Arbeitersportvereine auch Mannschaftssportarten wie Fußball (Männer) und Feldhandball (zunächst hauptsächlich Frauensport) zu betreiben.
Punkt 3: Was hat das alles mit „Frei Heil Oppenrod“ zu tun?
Genug umhergeschaut. Begeben wir uns in die preußische Provinz, genauer gesagt in die Provinz Oberhessen in das kleine Dorf Oppenrod, rund 10 Kilometer von Gießen, und versuchen wir zu ergründen, warum hier auf dem Land die politischen Ideen von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie so viele Sympathien finden konnten, dass sich die jungen Männer zu einem Arbeiter-Turnverein zusammenschlossen.
Schauen wir uns das Dorf zunächst mal aus der Vogelperspektive an.
Vergessen wir die Autobahn und die B 49; vergessen wir die Rahberghalle, die Sparkassenfiliale und sämtliche Häuser, bei denen nicht Fachwerk oder Gründerzeit-Ziegelstein den Bau zusammenhält. Da, wo wir heute sitzen, weideten damals im Sommer die Kühe. Die ersten Häuser der Hauptstraße standen kurz vor dem Abzweig der Lohwaldstraße, weiter reihten sie sich an der Hauptstraße, der Lohwaldstraße, der Licher Straße, am Bornweg und in der Grabenstraße. Auf einem Ortsplan aus dem 19. Jahrhundert erkennt man, wie klein die Grundstücke der Oppenröder waren – nichts als schmale Streifen hinter den kleinen Gehöften.
Stolz waren die Oppenröder, dass sie schon im Jahr 1905 eine Flurbereinigung hingekriegt hatten. Damit legten sie Acker- und Wiesenland so zusammen, dass aus dem Streubesitz wieder einigermaßen wirtschaftlich zu bearbeitende Flächen entstanden; das Erbrecht änderte sich allerdings nicht. Das Prinzip der Realteilung bewirkte, dass alle Grundstücke zu gleichen Teilen unter den Erben aufgeteilt werden mussten. Wer dann die Landwirtschaft übernahm, musste die anderen Geschwister auszahlen oder die Töchter, die in einen anderen Hof einheirateten, nahmen ihre Grundstücke mit. So war einerseits zu erklären, dass Ehen oft nach den passenden Grundstücken geschlossen wurden, andererseits war nie genug Geld da für Investitionen. Die Bauern blieben arm und mussten oft noch zusätzlich ein Handwerk betreiben oder in einem der Industriebetriebe im Gießener Raum Arbeit suchen.
Die ländliche Idylle, wie sie etwa auf den Bildern des Marburger Malers Otto Ubbelohde aus dieser Zeit dargestellt wird, sucht man also in Oppenrod vergebens. Es war wohl auf vielen Hofreiten eher so, wie im Film „Herbstmilch“ die Lebenswelt der Anna Wimschneider dargestellt wird. Mindestens drei Generationen in einem Haus, viele Kinder, vielleicht noch eine Magd und viel harte Arbeit von Kindesbeinen an.
Den oder die wohlhabenden Mitbürger, den großen Bauernhof oder ein Fabrikgebäude sucht man auf dem Ortsplan vergeblich. Mir ist auch aus meiner Beschäftigung mit der Geschichte Oppenrods aus Anlass der 750-Jahrfeier kein Oppenröder bekannt, der es im Dorf oder irgendwo in der großen weiten Welt zu Reichtum gebracht hätte. Offenbar gehörte es damals eher zur Mentalität der Einheimischen, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hatte und daraus das Beste zu machen. Es ist also davon auszugehen, dass beinahe jeder und jede mit dem Pfennig rechnen musste.
Deshalb kommt es auch beim Bau der Wasserleitung, der 1910 beschlossen wurde, zu erheblichem Widerstand in Teilen der Bevölkerung, der sich sogar auf den Ausgang der Bürgermeisterwahl auswirkt. Gegen die Wasserleitung sind die, die daran verdienen, dass sich ihre Nachbarn an ihrem Brunnen Wasser holen. Aber auch viele ihrer Kunden sind gegen die Neuerung, weil sie die Anschlusskosten und die hohen Wasserpreise fürchten. Auch den elektrischen Strom begrüßen viele Oppenröder nicht, wie wir vielleicht erwarten würden, als willkommenen Fortschritt. Vielmehr ist es so, dass einige aus Kostengründen noch Jahre damit warten, sich die Elektrizität ins Haus zu holen. Unsere zum sparsamen Haushalten gezwungenen Vorfahren saßen lieber noch bei Petroleumlampen und Kerzenlicht.
Vor diesem Hintergrund ist es in meinen Augen nicht erstaunlich, dass es in einer Kommune, in der alle ungefähr der gleichen sozialen Schicht eines eher ärmlichen Bauernproletariats angehören, sozialdemokratisches Gedankengut seine Sympathisanten finden kann.
Was sehen wir noch?
Die evangelische Kirche als zentrales Gebäude, auch sie kleiner als heute. Die Kirchengemeinde wird vom Großen-Busecker Pfarrer versorgt, der 1910 Heinrich Barth heißt. Protestantismus und Sozialdemokratie, dass das nach den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft gerade in den ärmeren Regionen zusammenpasst, haben wir eben schon gehört. Offenbar ist das auch in Oppenrod der Fall. Ob das dem Pfarrer, der sich wohl eher dem Bildungsbürgertum zugehörig fühlte, auch gefallen hat, ist eine andere Frage.
Ganz in der Nähe der Kirche, in der Licher Straße, steht die neue Schule, 1904 eingeweiht. Der Lehrer Adam Eckel ist hier für die Bildung aller Kinder des Dorfes zuständig. Die Schulpflicht in Preußen sorgt dafür, dass die Kinder auch zur Schule geschickt werden, die Eltern zahlen Schulgeld. Die Freude der jungen Oppenröder am Turnen könnte an diesem Ort seine Wurzeln haben, wo heute die Dorfwirtin das Kommunikationszentrum Oppenrods betreibt. Stolz verweist man anlässlich der Schuleinweihung 1904 darauf, dass neben der Geige mit Bogen und einer Rechenmaschine die Schule jetzt auch über moderne Turngeräte verfüge. Es gibt unter anderem Springpfeiler mit Stelleisen, Sprungbrett, Sprungschnur sowie mehrere Bälle und Holzstäbe.
Welches Verhältnis der damalige Lehrer Eckel zum Turnen hatte, lässt sich genauso wenig ermitteln wie der Grund für seine vorübergehende Suspendierung von Dienst im Jahr 1912. Dass er es jedoch mit der Arbeiter-Turnbewegung halten könnte, ist nicht zu erwarten, da der preußische Staat nicht dafür bekannt war, Sozialdemokraten als Lehrer auf die Schüler loszulassen. Dafür spricht auch, dass Lehrer Eckel in der Liste der ersten Turnvereinsmitglieder nicht auftaucht.
Hier finden wir vielmehr folgende Namen: Ludwig Haas, Wilhelm Haas, Karl Andreas Balser, Wilhelm Schmidt, Gustav Kinzebach, Wilhelm Balser I, Johannes Haas, Fritz Haas, Wilhelm Balser II, Karl Bender, Heinrich Balser II, Johannes Döring, Heinrich Ludwig Balser und Georg Schmidt. (Darf ich mal fragen, wer hier im Raum mindestens einen dieser Herren zu seinen Vorfahren zählt?). Meine Damen und Herren, das sind die Nachfahren unserer damals jungen Gründungsväter, die ganz offensichtlich Sympathien für Arbeiterbewegung und Demokratie hegten.
Ohne diese politische Grundhaltung hätten die sportbegeisterten Oppenröder, von denen in der Chronik die Rede ist, ja auch einen Verein in der Tradition des Turnvaters Jahn gründen und das Motto „Frisch, fromm, fröhlich, frei“ zum dem Ihren machen können. Stattdessen entschieden sie sich für das „Frisch, frei, stark, treu“ des Arbeiter-Turnerbund-Bezirks Gießen, dem sich der Verein gleich nach der Gründung anschloss. Die Verbandsvertreter Albert Koch von der Freien Turnerschaft Großen-Buseck und Karl Kreiling von der Freien Turnerschaft Gießen-Wieseck beobachten die Oppenröder Vereinsgründung als Gäste.
Eine rein männliche Veranstaltung also, zu der man da am 1. August 1910 im Gasthaus „Zum Kühlen Grunde“, heute das Wohnhaus der Familie Gans, zusammenkam. Dieses Gasthaus, später unter dem Namen „Schoa Kall“ bekannt, war übrigens nur eines von mehreren im rund vierhundert Einwohner zählenden Dörfchen Oppenrod.
Mit dem Wirt gibt es wegen des politischen Hintergrunds des Vereins kein Problem. Johannes Döring gehört schließlich zu den Gründungsmitgliedern des Turnvereins Frei Heil Oppenrod. Er teilt also die im Gründungsprotokoll niedergeschriebene Absicht der Vereinsmitglieder: (ZITAT)
„mit dem Sport dem schaffenden Menschen für die einsitige Belastung durch seine Arbeitsstelle einen Ausgleich zu schaffen und ihn demokratisch zu schulen“, wie es das Gründungsprotokoll festhält. Und es macht dem Wirt demnach auch nichts aus, dass man nach den Worten des damaligen Vereinsrechners Heinrich Ludwig Balser wissen musste: ZITAT „Im Reiche Wilhelm des II. war eine Freie Turnerschaft als ein SPD-Verein angesehen“.
Döring geht also davon aus, dass es seinem Wirtshaus nicht schaden würde, wenn es Vereinslokal der Turner würde. Das Engagement der Wirtsleute für den Verein ist so groß, dass sie sich am Bau einer Turnhalle im Garten der Gastwirtschaft beteiligen. Rechner Balser erinnert sich: ZITAT
„Weiterhin wäre zu berichten, dass von der heute noch lebenden Vereinswirtin Karoline Döring Witwe unter großen Opfern und tatkräftiger Mitarbeit aller Mitglieder eine Halle für den Turnbetrieb im Garten der Wirtschaft Döring erstellt wurde.“
Kurz nach der Gründungsversammlung, die Wilhelm Haas zum Ersten Vorsitzenden wählt, zählt der Verein schon mehr als vierzig Mitglieder. Eine Schüler-Abteilung mit Turnern unter 16 wird sofort ins Leben gerufen und Geld für Turngeräte kommt aus Spenden von außerordentlichen Mitgliedern und einem Zuschuss vom Turnerbund zusammen. Das reicht für ein Reck und einen Barren. Hanteln für die Gewichtheber werden aus Wasserleitungsrohren und Betonklötzen zusammengebaut.
So, und jetzt nichts wie nach Gießen und die passenden Trainings- und Wettkampfoutfits zusammengestellt?
Wenn es nur so einfach gewesen wäre…Schaut man sich die Fotos aus den ersten Jahren des Vereins an, sieht man die Sportler in Straßenschuhen im Gras stehen und Hanteln heben. Auch der Barren steht im Freien. Der Turner trägt eine Art Unterhemd – dazu hat man früher wohl Leibchen gesagt – und eine beinlange enge Hose.
Die Bekleidungsfrage steht aber offenbar nicht im Vordergrund, denn auch in Straßenschuhen, Stricksocken und umfunktionierter Unterwäsche trainieren die jungen Männer so fleißig, dass die Oppenröder Turner schon im Juli 1911 mit einer neunköpfigen Muster-Riege am Reck beim Bezirksturnfest in Gießen antreten können. Bei 28 Mannschaften belegen sie den 7. Platz. Ein Jahr später starten wieder neun Oppenröder Turner beim Westdeutschen Bundesfest in Offenbach und kommen auf den 19. Platz.
Perfekt ist das Turnerglück aber erst mit der Gründung eines Spielmannszuges unter der Leitung des 2. Vorsitzenden Karl Balser, der die Turner auf ihren Märschen begleitet.
Und gerade als alles so gut läuft, geht mit großem Trara und Siegesgewissheit der Erste Weltkrieg los, pünktlich zum vierten Jahrestag der Vereinsgründung. „Nun hat alle Turnerei ein Ende“, schreibt Rechner Balser in seinen Erinnerungen. Zweiter Vorsitzender und Spielmannszugleiter Karl Balser ist der erste, den die Oppenröder Turner im Ersten Weltkrieg betrauern müssen. Schon im August, kurz nach Kriegsbeginn fällt er. Noch sechs weitere Vereinsmitglieder kommen nicht von den Schlachtfeldern zurück.
4. und Schluss: Wieviel von Frei-Heil steckt heute noch in den Sportfreunden Oppenrod?
Hundert Jahre nach der Vereinsgründung ist klar: Alle politischen Ziele der Arbeiter-Turner sind in der Bundesrepublik nicht nur erreicht worden, sondern integraler Bestandteil der Programme aller politischen Parteien. Wir leben seit mehr als 60 Jahren in Freiheit und Demokratie und können den letzten Satz des Eingangszitats unterschreiben: „Wir haben Frieden, Freiheit, Recht. Keiner ist des anderen Knecht.“
Unter diesen politischen Vorzeichen ist es gut und richtig, dass es heute keine Rolle mehr spielt, ob ein Mitglied der Sportfreunde Arbeiter, Beamter, Freiberuflerin, Hausmann, Studentin oder Handwerker ist. Der Verein steht jedem und jeder offen, der oder die eine der angebotenen Sportarten betreiben will oder den Verein anders unterstützen möchte. Mit dem ehrenamtlichen Engagement steht und fällt der Verein in allen Sparten wie vor einem Jahrhundert. Die Nachwuchsarbeit ist ein wichtiger Beitrag zur sinnvollen und gesunden Freizeitgestaltung der Kinder und Jugendlichen. Wettkämpfe, Pokal- und Meisterschaftsspiele verschaffen Erfolgserlebnisse oder lehren mit Misserfolgen umzugehen. Gemeinschaft und gemeinsames Erleben sind wie vor 100 Jahren ein weiterer Grund, sich im Verein zu engagieren oder als Sportler mitzutun. Angesichts sinkender Kinderzahlen wird sich der Verein in Zukunft vielleicht mehr Gedanken um den Seniorensport machen müssen.
Aber da wird dem Vorstand und den Vereinsmitgliedern rechtzeitig etwas einfallen. Da bin ich mir ganz sicher.
Allerdings bin ich mir nicht so sicher, was dem Vorstand dazu einfällt, was ich jetzt noch sagen muss: Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag ist mir ein Rätsel begegnet, das ich noch nicht lösen konnte. In der Chronik steht, dass sich die Gründungsmitglieder zur Vorbereitung der Versammlung am Sonntag, 23. Juli 1919 trafen und die Gründungsversammlung am Sonntag, 1. August 1910 zusammenkamen. Aufmerksamen Menschen wird schnell klar, dass nur einer der beiden Tage ein Sonntag gewesen sein kann. Als ich dann im Internet den Kalender 1910 befragte, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass weder der eine noch der andere Tag ein Sonntag war, ganz im Gegensatz zum 1. August 1909. Renate Renger hat mir aber glaubhaft versichert, dass es mit dem Jubiläumsjahr seine Richtigkeit hat und wir unbesorgt weitermachen können.
Den Irrtum mit dem Sonntag erkläre ich mir so: Wahrscheinlich wird so eine Vereinsgründung im Rückblick immer als ganz besonderer Feiertag empfunden. Deshalb muss es einfach ein Sonntag gewesen sein.